Waris Dirie ist wütend. „I don’t want to be here!” blafft sie ins Mikrofon des Rednerpultes, “but I have to!” Die rund 100 ZuschauerInnen sind einen Moment erschreckt. Das soll eine Laudatio sein? Von einer Laudatorin, die eigentlich gar nicht hier sein will? Hier im Roten Rathaus in Berlin, wo heute der Heldinnen-Award der Alice-Schwarzer-Stiftung verliehen wird an zwei Frauen, die in Deutschland gegen Genitalverstümmelung kämpfen (hier die komplette Veranstaltung im Video).
Die eine die deutsch-kenianische Sozialarbeiterin Virginia Wangare Greiner, die in Frankfurt mit ihrer Organisation Maisha verstümmelte Frauen berät und durch Aufklärung weitere Verstümmelungen verhindert; die andere die Berliner Ärztin Cornelia Strunz, die am Krankenhaus Waldfriede dafür sorgt, dass die zugenähte Vagina und die verstümmelte Klitoris via OP wiederhergestellt werden. Letzteres in Kooperation mit Waris Diries „Desert Flower Foundation“. Weshalb Dirie nun die Laudatio auf die Preisträgerin Cornelia Strunz halten soll.
„Ich stehe hier nach 40 Jahren und muss immer noch dieses Verbrechen anprangern!“
Waris Dirie
Aber Waris Dirie hat offenbar keineswegs die Absicht, in ihrer Laudatio, die mehr Performance als Rede ist, die gängigen Floskeln von sich zu geben. „Ich kann nicht glauben, dass ich hier nach 40 Jahren immer noch stehe und dieses Verbrechen anprangern muss!“, sagt sie ins Mikro. Das Verbrechen wurde an ihr selbst begangen, als sie fünf Jahre alt war. Mit 13 floh das Mädchen aus Somalia nach England. Dort wurde sie mit 18 als Model entdeckt und widmet seither ihr Leben dem Kampf gegen die Genitalverstümmelung. Ihr Buch „Wüstenblume“ 1998 rüttelte die Welt auf. Aber das reichte nicht.
„Shame on you!“ klagt sie an. „Schämt euch, dass ihr es nicht geschafft habt, die Genitalverstümmelung abzuschaffen!“ Und das gilt nicht nur für Afrika, sondern auch für Europa. 230 Millionen Frauen sind weltweit betroffen, allein in Deutschland leben 75.000 Mädchen und Frauen, denen Klitoris oder, je nach Art der „Beschneidung“, auch innere und äußere Schamlippen entfernt wurden. Weitere 20.000 Mädchen sind hierzulande akut von der Verstümmelung bedroht – mitten in Deutschland.
Inzwischen stehen auf dieses schwere Verbrechen gegen die Sexualität und Gesundheit von Frauen, manchmal sogar gegen ihr Leben, bis zu 15 jahren Gefängnis. Aber es hat bis heute in Deutschland nicht eine einzige Anzeige wegen Klitorisverstümmlung gegeben – bei 70.000 Verstümmelten. Man könne sich nicht darauf zurückziehen, dass das zu „unserer Kultur gehört“, beschwor Dirie. „Diese Kinder sind auch eure Kinder!“ Und schließlich: „I want this to be over!“
Allein in Deutschland leben 75.000 Opfer – aber es gab keine einzige Anzeige.
Dass dieses Verbrechen an Mädchen und Frauen endlich aufhören möge, das wollten alle, die an diesem 25. Oktober ins Rote Rathaus gekommen waren, um bei der Verleihung des mit 10.000 Euro dotierten „Heldinnen-Awards“ der Alice-Schwarzer-Stiftung an Virginia Wangare Greiner und Cornelia Strunz dabei zu sein. „Wir treten ein für die unveräußerlichen universell gültigen Menschenrechte“, erklärte Esther Uleer, Staatssekretärin im Berliner Justiz-Senat, die die Anwesenden „im Namen des gesamten Berliner Senats im Roten Rathaus willkommen“ hieß.
Auch der erste HeldinnenAward der Alice-Schwarzer-Stiftung war hier verliehen worden. Im November 2023 hatte die iranische Anwältin Nasrin Sotoudeh den Preis für ihren todesmutigen Einsatz für Frauenrechte bekommen. Drei Tage nach der Preisverleihung war sie aus dem Gefängnis freigelassen worden. Alice Schwarzer überbrachte Grüße der Preisträgerin und deren „tiefe Anerkennung für Ihr gemeinsames Engagement im Kampf gegen Genitalverstümmelung“.
In ihrer Begrüßung erklärte Schwarzer: „Feministinnen haben den Begriff der ‚Sexualgewalt‘ geprägt. Sie ist der harte Kern der Unterdrückung von Frauen weltweit und sie geht von der Gewalt im eigenen Schlafzimmer bis hin zu diesen dramatischen Verstümmelungen“, erklärte Alice Schwarzer in ihrer Begrüßung. „Mit der Genitalverstümmelung wird Frauen nicht nur das potenzielle Zentrum ihrer Lust geraubt, sondern sie werden lebenslang gesundheitlich und seelisch geschädigt. Geschlechtsverkehr und Geburten sind eine wahre Folter. Was ein Quell der Freude und des Lebens sein sollte, wird zur permanenten Bedrohung und Qual.“
Was ein Quell der Freude und des Leben sein sollte, wird für diese Frauen zur Qual.
Schwarzer erinnerte daran, dass EMMA schon in ihrem Gründungsjahr 1977 über die Genitalverstümmelung berichtet hatte und erschütterte Leserinnen „Waschkörbe voller Briefe“ geschickt hatten. Die fragten nicht nur „Was können wir tun?“, sondern stellten auch den Zusammenhang her zwischen dem Leid der afrikanischen Frauen und ihrem eigenen: „Wir werden seelisch verstümmelt – auch wir kennen das Zentrum unserer Lust nicht.“ Und sie wiesen darauf hin, dass auch in westlichen Ländern noch im 19. Jahrhundert Frauen die Klitoris operativ entfernt wurde, wenn sie als „hysterisch“ galten, also aufbegehrten gegen Unterdrückung.
Vor allem aus den antikolonialistischen, westlichen Kreisen, so Schwarzer, habe man damals die „eiltären, weißen Europäerinnen“ angegriffen, die sich in die fremden „Traditionen“ bitte „nicht einmischen“ mögen. Doch längst seien Europäerinnen und Afrikanerinnen „verbunden in diesem Kampf“. Es sei auch „kein Zufall, dass durch unsere Stiftung eine Afrikanerin und eine Berlinerin geehrt werden. Im Kampf gegen dieses dustere Verbrechen sind wir alle gefordert – Arm in Arm, Schulter an Schulter.“
Und so war es auch kein Zufall, dass ein weißer Mann die Laudatio auf die schwarze Preisträgerin hielt. Prof. Jürgen Wilhelm, Vorstandsmitglied der Alice-Schwarzer-Stiftung, und selbst jahrzehntelang in der Entwicklungspolitik tätig, würdigte Virginia Wangare Greiner. Sie war 1986 mit ihrem Mann, einem Entwicklungshelfer, aus Kenia nach Deutschland gekommen. 1996 gründete die Mutter von fünf Kindern Maisha, das Swahili-Wort für „Leben“.
Zu Maisha kommen Frauen in größter Not, die aufgrund ihrer Verstümmelung Panik vor einer Geburt haben oder verhindern wollen, dass auch ihre Töchter verstümmelt werden. Bei Maisha kommen die Frauen in Selbsthilfegruppen zusammen, die Organisation schult ÄrztInnen und Hebammen und klärt in der afrikanischen Community auf, um weitere Verstümmelungen zu verhindern.
Genitalverstümmelung ist auch in Deutschland immer noch ein Tabuthema.
„Bei der Genitalverstümmelung handelt es sich auch in Deutschland immer noch um ein Tabuthema, das nicht einmal an dem dafür eingerichteten Tag, dem 6. Februar, eine besondere mediale Aufmerksamkeit erfährt“, bedauerte Wilhelm. Deshalb sei „der jahrzehntelange Einsatz von Virginia Wangare Greiner umso höher einzuschätzen und zu würdigen.“
„Dieser Preis gehört nicht nur mir, sondern allen Frauen, denen ich im Leben begegnet bin und die gekämpft, gelitten und überlebt haben“, antwortete die Geehrte. „Dieser Preis ermutigt mich und alle, die mit mir arbeiten, weiterzumachen und dafür zu sorgen, dass keine Frau jemals schweigen oder alleine leiden muss.“
Allein, über das Erlittene zu sprechen und zu begreifen, wie groß die Verletzung ist und wie sie – seelisch wie körperlich – geheilt werden kann, ist ein erste Schritt zu Heilung. Dafür wurde Cornelia Strunz, Fachärztin mit dem Spezialgebiet Darm- und Beckenbodenchirurgie, 2013 Leiterin der Sprechstunde für genitalverstümmelte Frauen am Krankenhaus Waldfriede in Berlin Zehlendorf, geehrt. Damals gründete Chefarzt Dr. Roland Scherer das „Desert Flower Center“, das genitalverstümmelte Frauen operativ, so weit uberhaupt möglich, wiederherstellt. Er fand, Strunz sei die Richtige für die soziale und psychischen Betreuung der Opfer. Er behielt recht.
„Diese Frauen sind für mich die wahren Heldinnen“, sagte Cornelia Strunz. „Denn sie sind so mutig, mich anzurufen und sich Hilfe und Unterstützung zu holen. Diese Frauen haben meist noch nie mit jemandem darüber geredet, was ihnen in frühester Kindheit widerfahren ist. Ich bin oft die erste Person, mit der sie sich über all das austauschen können.“
„Ich bewundere Sie beide aus tiefstem Herzen für Ihren Kampf“, erklärte Alice Schwarzer zum Abschluss. Am Ende der bewegenden Veranstaltung waren viele entschlossen, jetzt auch selber aktiv zu werden. Nicht länger wegzusehen mitten in Deutschland. Das gibt Hoffnung. Hoffnung, dass Frauen wie Waris Dirie eines leider fernen Tages nicht mehr wütend sein müssen. Fangen wir jetzt an!
CHANTAL LOUIS
Alles über den HeldinnenAward. – Die ganze Veranstaltung im Video:
TV-Berichte über den HeldinnenAward 2024: rbb-Abendschau am 25.10.24 und Hessenschau am 25.10.24
Spenden für Maisha e. V., Konto: Maisha, Frankfurter Sparkasse, IBAN: DE29 500502010305855557, BIC: HELADEF1822 – www.maisha.org
Spenden für das Desert Flower Center: Konto: Förderverein Krankenhaus Waldfriede e. V., DKB Bank, IBAN: DE24 1203 0000 1020 1450 15, BIC: BYLADEM1001, Stichwort: Desert Flower Center – www.dfc-waldfriede.de
Patin für ein Mädchen werden: www.desertflowerfoundation.org/de/pate-werden.html